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Zwei Frauen stehen nebeneinander und unterhalten sich

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«Die Kinder von suchtkranken Eltern leiden während der Corona-Pandemie noch stärker unter häuslicher Gewalt und Verwahrlosung»

Das Coronavirus hat uns im Griff und gibt den Takt vor. Wie erleben Kinder aus suchtbelasteten Familien diese schwierige Phase? Welche Unterstützung benötigen sie? Markus Rinderknecht Granell und Regina Wälti geben Einblicke in ihre Arbeit mit betroffenen Familien.

Die Corona-Pandemie und insbesondere die Schulschliessungen im letzten Frühling waren für alle Familien eine äusserst schwierige Herausforderung. Welche Folgen hatten und haben die Ereignisse aber speziell für suchtbetroffene Eltern? Wie hat sich beispielsweise ihr Alltag bzw. ihr Suchtverhalten verändert?

Markus Rinderknecht Granell: Suchtbetroffene Eltern konnten ihren Konsum zum Teil weniger gut vor ihrer Familie verstecken. Es gab dadurch vermehrt Konflikte und Gewalt in der Familie. Durch den Lockdown und die Schulschliessungen war das Zusammenleben über lange Zeit auf sehr engem Raum begrenzt, was schon alleine für zusätzlichen Stress sorgt. Für viele Menschen gab es durch den Wegfall der Arbeit, den finanziellen Existenzängsten und dem zusätzlichen psychischen Stress subjektiv mehr Gründe für einen vermehrten Suchtmittelkonsum als dagegen.

Ein Vater hat mir in der Beratung anvertraut, dass er täglich mit einer Flasche Wodka aus dem Haus schleiche und in der näheren Umgebung – aber im Verstecktem – seinen Alkohol konsumiere. Nach einer Stunde kehre er dann wieder nicht mehr ganz nüchtern nach Hause und lege sich ins Bett. Seine Kinder hätten nicht viel davon mitbekommen!

Regina Wälti: Viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten temporär im Niedriglohnbereich, im Stundenlohn. Viele von ihnen haben während der Corona-Krise die Stelle verloren. Ihre schon zuvor schon angespannte finanzielle Lage hat sich dadurch noch verschlimmert. Diese Existenzängste aber auch Alltagsprobleme wie zum Beispiel bei der Unterstützung der Kinder im Fernunterricht haben das Suchtverhalten der Eltern beeinflusst.

Ich habe ein ähnliches Beispiel wie Markus erlebt: Der Alltag von einem suchtbetroffenen Vater hat sich insofern verändert, dass er nicht mehr auswärts trinken konnte. Normalerweise ging er nach der Arbeit trinken, kam nach Hause, ass etwas und ging dann schlafen. Während dem Lockdown hat er zu Hause Alkohol im Schrank versteckt und immer wieder auch tagsüber getrunken. Seine Frau musste sich um ihn und um die Kinder kümmern, die den Alkoholkonsum des Vaters nun auch mitbekamen. Sie fühlte sich in dieser Zeit sehr einsam und überfordert.

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Unter welchen Folgen litten bzw. leiden die Kinder von suchtkranken Eltern während der Pandemie?

Regina Wälti: Die Kinder haben stark gelitten. Angst und Verunsicherung waren besonders während dem Lockdown sehr ausgeprägt. Sie bekamen die Sorgen und Ängste der Eltern ungefiltert mit und nahmen diese Gefühle auch auf. Nach dem Lockdown hatte ich das Gefühl, dass es etwas ruhiger wurde, da die Kinder wieder in die Schule konnten. Doch die Verunsicherung ist oft noch da.

Bei vielen Familien, in denen sich die Mutter oder der Vater alleine um die Kinder kümmern, weil sie sich vom suchtkranken Elternteil getrennt haben, kommen weitere Herausforderungen auf die Kinder und Jugendlichen zu. Bei einem Beispiel musste eine Mutter mit psychischen Problemen ins Spital, weil alles zu viel für sie wurde. Die Kinder waren dadurch zusätzlich verängstigt und verunsichert.

Markus Rinderknecht Granell: Die jüngste Umfrage der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes zeigt, dass sich heute vor allem Ängste und depressive Symptome seit dem ersten Lockdown im Frühling bei Kindern und Jugendlichen mehr als verdoppelt haben. Die steigenden Verunsicherungen bei vorbelasteten Kindern und Jugendlichen haben zu einer drastischen Verschärfung der Symptome geführt. Das widerspiegelt sich vor allem im ambulanten Bereich, wo die Kinder- und Jugendpsychiatrie einen Zuwachs bis zu 50 Prozent verzeichnet. Auch die wichtigen vorgelagerten Bereiche wie Sorgentelefon oder Beratungsstellen vermelden einen deutlichen Zuwachs.

Wenn suchtbetroffene Eltern in erschwerten Lebenssituationen ihre elterliche Verantwortung nicht mehr genügend übernehmen können, schaden sie ihren Kindern. Wenn sich der Vater zum Beispiel nach dem Alkoholkonsum ins Bett legt um sich auszunüchtern, haben die Kinder keinen Ansprechpartner und sind sich selber überlassen. Rollen und Hierarchien in suchtbelasteten Familien sind deshalb häufig verschoben.

Erhöhter Alkoholkonsum in Kombination mit sozialem Stress und Ängsten erhöht auch das Aggressionspotential in Familien. Kinder leiden häufig unter häusliche Gewalt oder emotionaler Verwahrlosung.

Wie können die Kinder während dieser ausserordentlichen Phase besser unterstützt und allenfalls geschützt werden?

Regina Wälti: Das ist eine schwierige Frage! Oft merkt man es den Kindern lange nicht an, dass es ihnen nicht gut geht. Sie funktionieren und gehen in die Schule, bis es irgendwem auffällt, dass etwas nicht stimmt.
Gerade die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Zeiten von Unsicherheiten schwierig. Da die Familien sich stärker in ihre Gemeinschaft zurückziehen, ist es schwieriger, sie zu erreichen. Deshalb sind niedrigschwellige aufsuchende Angebote wie «Migram» oder «Pa-PaRat» wichtig. Eventuell müsste man auch die Tagesschulen involvieren, denn sie verbringen die Freizeit mit den Kindern. Sie bekommen oft viel von den Kindern mit und haben ein gutes Verhältnis zu ihnen. Die Mitarbeitenden in den Tagesschulen können die Kinder auch gut beobachten und Dinge merken, die sonst untergehen.

Markus Rinderknecht Granell: Der angemessene Einbezug der Kinder und Jugendlichen in eine Behandlung suchtbelastender Eltern scheint mir sehr wichtig zu sein, um auch die Nöte der Kinder und Jugendlichen aufzufangen.

Kinder und Jugendliche brauchen auch in der Pandemiezeit ihre Rückzugsmöglichkeiten. Der fehlende Austausch mit Freunden und die Einschränkung ausserfamiliärer Kontakte machen Jugendlichen deutlich mehr zu schaffen als anderen Altersgruppen.

Darum sind, wie Regina gesagt hat, auch gerade niederschwellige Kontakt- und Beratungsangebote für diese Zielgruppe sehr wichtig. Das Sorgentelefon der Pro Juventute hat im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von 40 Prozent. Zudem sind organisierte ausserfamiliäre Aufgabenhilfen oder Hütedienste für Kinder in schwierigen Lebensumständen sehr wertvoll.

Die Aufrechterhaltung der Beratungsmöglichkeit bei einem weiteren Lockdown über digitale Medien scheint mir ebenfalls sehr wichtig, damit die Familie auch in einer Krisensituation den Kontakt zur Aussenwelt halten kann. Ein 16-jähriger Jugendlicher hat mir anvertraut, dass unsere wöchentlichen Telefonberatungsgespräche während seiner Homeoffice-Lehrzeit, gegenwärtig die einzigen ausserfamiliären Kontakte für ihn seien.

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Rechnen Sie wegen der Pandemie mit Spät- oder Langzeitfolgen für die Kinder?

Markus Rinderknecht Granell: Kinder und Jugendlichen schlägt die Pandemie langfristig wohl noch mehr auf die Psyche als Erwachsenen. Obwohl die Kinder- und Jugendpsychiatrien KJP dies noch nicht mit langfristigen Zahlen belegen können, stellen sie eine beunruhigende Zunahme von ernsthaften Suizidversuchen fest. Gemäss KJP werden Jugendliche in die Klinik eingewiesen, die ohne grosse Vorerkrankungen oder Vorzeichen in einen Verzweiflungszustand geraten, der ihnen ausweglos erscheint. Und dies sei in allen Landesteilen so. Zudem wird beobachtet, dass eine zunehmende Anzahl von Jugendlichen, die von Amphetaminen oder Kokain auf beruhigendere Rauschmittel wie Cannabis, Alkohol oder eben auch Psychopharmaka umsteigen. Wenn jemand dauernd zu Hause sitzen muss, bringt ein Aufputschmittel starke Unruhe und allenfalls Angst. Da ist etwas Dämpfendes viel angesagter. So konsumieren zum Teil Jugendliche unkontrolliert Benzodiazepine wie Xanax oder Temesta. Die Medikamente führen aber sehr schnell in die Abhängigkeit.

Laut einer Erhebung des Bundes befürchten Jugendpsychologen mittel- und längerfristige Corona-Folgen bei Jugendlichen: Etwa in ungünstige Veränderungen des Beziehungs- und Bindungsverhaltens junger Menschen.

Eine längerfristige Auswirkung der Pandemie wird sich sicherlich auch auf innerfamiliäre Konflikte und Gewalt zeigen. Je länger die Corona-Krise dauert, desto akuter ist die Gefahr von Reibereien. Das nicht absehbare Ende ist ein Nährboden für Konflikte. Die angespannte Situation zeigt sich derzeit auch in Frauenhäusern. Alle sind derzeit fast voll oder ganz belegt. Viele Familien und Paare sind am Anschlag, was natürlich auch massive (längerfristige) Auswirkungen auf deren Kinder hat.

Kinder und Jugendliche leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen (z.B. bei häusliche Gewalt und Depressionen). Dies kann später u.a. zu erhöhtem Alkohol- oder Drogenkonsum führen.

Stellen Sie in Ihrer Arbeit mit betroffenen Familien während der Pandemie auch positive Veränderungen fest, die Sie vielleicht überrascht haben? Können Sie ein konkretes Beispiel/Erlebnis schildern?

Regina Wälti: Für einzelne Kinder war der Lockdown scheinbar auch eine Chance in Bezug auf das Lernen. Einige konnten sich zu Hause besser konzentrieren und haben deshalb Fortschritte gemacht. Dies wurde den Eltern von den Lehrpersonen nachher so zurückgemeldet.
Einzelne Kinder musste im Fernunterricht aber auch mehr Verantwortung übernehmen: Zum Beispiel schämte sich eine Familie, dass sie keinen Computer zu Hause haben. Das Kind hat sich dann getraut, es der Schule zu melden und bekam ein Gerät zur Verfügung gestellt. Zum Glück hatte es die Fähigkeit, das Gerät selber zu installieren und zu nutzen.


Markus Rinderknecht Granell: Jugendliche, welche bisher einen leichten Drogenkonsum betrieben haben, in Gruppen und bei Partys immer wieder mal etwas ausprobiert haben, werden durch die Pandemie-Massnahmen zum Teil besser «geschützt» und konsumieren weniger oder z.T.gar nicht mehr.

In einer Familiensitzung – während Vater, Mutter und Tochter in «Homeoffice» arbeiteten – wurde der zurzeit stark reduzierte Cannabiskonsum der Tochter thematisiert. Die beinahe Cannabis-Abstinenz der Tochter erklärt sie den Eltern damit: «Alleine zu kiffen macht mir keinen Spass und die familiären Spielabende, welche wir seit der Pandemie in unsere Wochenplanung aufgenommen haben, finde ich super, endlich spielen wir wieder zusammen und schauen nicht nur fern!»

Frau Wälti, Herr Rinderknecht Granell: Besten Dank für das spannende Gespräch!

Zu den Personen

Markus Rinderknecht Granell, Fachpsychologe für Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendpsychologie FSP, ist Fachmitarbeiter Beratung und Therapie bei der Berner Gesundheit.

Regina Wälti arbeitet als Schlüsselperson im Projekt «Migram» der Berner Gesundheit und ist interkulturelle Übersetzerin, Erwachsenenbildnerin bei «Famira – Elternbildung von Migrantinnen für Migrant*innen».

Nationale Aktionswoche «Kinder von suchtkranken Eltern eine Stimme geben»

Im Rahmen einer internationalen Bewegung findet vom 8. bis 14. März 2021 in der Schweiz zum dritten Mal eine nationale Aktionswoche statt. Ziel ist es, den Kindern von suchtkranken Eltern eine Stimme zu geben und auf ihre Situation und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Die Berner Gesundheit beteiligt sich mit Partnerinnen und Partnern an den vielfältigen Aktivitäten.
Weitere Informationen und Programm unter:

www.kinder-von-suchtkranken-eltern.ch