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Zwei Frauen stehen nebeneinander und unterhalten sich

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«Ein Ort, wo Kinder wieder Kind sein können»

Wie gehen Pflegefamilien mit Kindern von suchtkranken Eltern um? Welche Herausforderungen meistern sie und was können sie den betroffenen Kindern bieten? Ein Gespräch mit Larissa Dimitrijevic, sozialpädagogische Mitarbeiterin beim Verein prima-familia.

Frau Dimitrijevic, ganz allgemein: Was sind die Aufgaben und Rollen einer Pflegefamilie? Was kann sie einem Kind bieten und was nicht?

Larissa Dimitrijevic: Pflegefamilien sind Familien, welche ihr Haus und ihr Familienalltag öffnen, sodass Menschen (in der Regel Kinder) dazukommen und für eine begrenzte Zeit, oder auch längerfristig, ein Teil davon werden können. Das Angebot der Pflegefamilien ergänzt die Herkunftsfamilie, welche weiterhin eine zentrale Rolle im Leben des Pflegekindes einnimmt. Eine Pflegefamilie kann und soll die Herkunftsfamilie aber nicht ersetzen. Zu den Aufgaben einer Pflegefamilie gehört demnach, nebst der Betreuung der Kinder, auch der Umgang und die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie. Pflegefamilien können den Kindern ein stabiles Wohnumfeld und verlässliche Beziehungsangebote anbieten. In diesem sicheren kleinen Rahmen sollen neue Erfahrungen gemacht werden können und eine Weiterentwicklung stattfinden. Die Kinder sollen Kinder sein dürfen und Schutz erleben. Pflegefamilien stellen kein therapeutisches Setting dar.

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Wie viele Kinder von suchtkranken Eltern werden durchschnittlich pro Jahr von prima-familia Familien betreut? Nimmt die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu? Gibt es einen Trend?

Larissa Dimitrijevic: Insgesamt sind momentan um die 120 Kinder in Pflegefamilien von prima-familia untergebracht (verschiedene Platzierungsformen). Davon haben ca. 20 Kinder mindestens ein Elternteil mit einer Suchtthematik. Die genauen Zahlen werden bei uns statistisch nicht erhoben, weshalb Aussagen zu einem möglichen Trend schwer zu machen sind.

Was müssen die Pflegeeltern speziell mitbringen, um ein Kind von suchtkranken Eltern zu betreuen?

Larissa Dimitrijevic: Die Beziehungs- und Lebenserfahrung von Kindern suchtkranker Eltern ist oftmals von grosser Instabilität und Unsicherheit geprägt. Dass der Alltag der Pflegefamilie möglichst stabil und konstant ist, ist in diesen Fällen von besonderer Bedeutung. Zudem verlangt der oftmals schwankende Gesundheitszustand der Eltern – aufgrund der Suchterkrankung – nicht nur von den Kindern, sondern auch von den Pflegefamilien eine grosse Flexibilität und Anpassung an die aktuellen Umstände ab. Die Schwankungen auszuhalten und die Auswirkungen auf das Kind zu beobachten und dennoch offen gegenüber den leiblichen Eltern zu bleiben, ist nicht einfach. Um das Verständnis zu fördern, helfen Kenntnisse zu Suchterkrankungen.

Close up of boy drawing with chalks

Was bedeutet es für eine Pflegefamilie, wenn sie ein Kind von suchtkranken Eltern betreut? Wo liegen die speziellen Herausforderungen bei Kindern, wo bei Jugendlichen?

Larissa Dimitrijevic: Nebst den bereits beschriebenen ist es von Bedeutung, dass sich die Pflegefamilie auch bewusst ist, dass bei Kindern suchtkranker Mütter die Möglichkeit neurologischer Schäden besteht. Diese kommen teilweise erst in einem gewissen Alter zum Vorschein und werden oft erst in einem stabilen Umfeld erkannt, da die bereits bestehenden Auffälligkeiten zuvor schwer zu deuten sind. Formen von FASD-Erkrankungen (Fetales Alkoholspektrum-Störungen), bei welchen eine hohe Dunkelziffer besteht, bringen für die Pflegefamilien in der Betreuung der betroffenen Kinder beispielsweise viele zusätzliche Herausforderungen mit sich. Gemäss Studien greifen Kinder suchtkranker Eltern im Jugend- und Erwachsenenalter ebenfalls öfter zu Suchtmitteln. Die Herausforderung bei Jugendlichen ist demnach, sie darin zu begleiten, einen gesunden Umgang mit Suchtmitteln zu erlernen.

Wie gehen die Pflegeeltern mit diesen Herausforderungen um?

Larissa Dimitrijevic: Mit den Herausforderungen gehen Pflegefamilien sehr unterschiedlich um. Nicht allen gelingt es gleich gut, sich auf das Herkunftssystem mit der bestehenden Suchtthematik und den damit verbundenen Schwankungen einzulassen. Damit dies gelingt, ist die Begleitung der sozialpädagogischen Fachpersonen einer DAF (Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege) wichtig. Die Pflegefamilien sind den Pflegekindern sehr nahe und sehen insbesondere die Bedürfnisse der Kinder und was es mit ihnen macht. Das Schutzbedürfnis ist oft gross, was auch gut so ist. Um dennoch einen «gesunden» Kontakt zur Herkunftsfamilie zu fördern, bedarf es einer vermittelnden Person, welche zwischen Eltern und Pflegeeltern steht, den Weitblick fördert und die Zusammenarbeit mit den Eltern koordiniert.

Was bedeutet es für die leiblichen Eltern? Wo liegen die Herausforderungen z.B. im Umgang mit Besuchen?

Larissa Dimitrijevic: Für die Besuchsregelung zwischen den Kindern und ihren suchtkranken Eltern sind klare Weisungen und Abmachungen sehr wichtig, bzgl. Zeit, Ort und Voraussetzungen für die Durchführung. Diese geben den Kindern sowie den Pflegefamilien eine gewisse Orientierung und Sicherheit. Die von aussen bestimmte Kontaktregelung schränkt gleichzeitig jedoch die Autonomie der Eltern ein und ist teilweise schwer zu akzeptieren. Die Eltern haben oft den Wunsch nach einer spontanen unkomplizierten Beziehungspflege, welche ihnen verwehrt bleibt. Die Platzierung an sich kann für die leiblichen Eltern einerseits eine Erleichterung darstellen, da sie wissen, dass ihr Kind sich nun in stabilen Verhältnissen befindet, die nötige Unterstützung erfährt und ihnen ein Teil der Verantwortung abgenommen wird, sodass die Eltern die eigenen Themen angehen können. Andererseits kann die Fremdunterbringung die Schuldgefühle und den Eindruck fördern, als Eltern versagt zu haben, was wiederum einen negativen Einfluss auf das Suchtverhalten haben kann.

Babies Playing

Wie unterstützt Prima Familia die Pflegeeltern?

Larissa Dimitrijevic: prima-familia pflegt eine enge Beziehung zu den Pflegeeltern und den Pflegekindern. Es finden regelmässige Besuche bei den Pflegefamilien zuhause statt. Ziel dabei ist, die Pflegefamilien pädagogisch zu beraten und zu begleiten, ihnen aber auch administrative Aufgaben abzunehmen, sodass sie sich auf die Betreuung des Pflegekindes konzentrieren können. Wie zuvor bereits erwähnt, ist die vermittelnde Rolle zwischen Herkunfts-und Pflegefamilie eine weitere wichtige Aufgabe, gerade wenn die Suchtproblematik ein Thema ist.

Gibt es Lücken im Betreuungsangebot im Kanton Bern? Wenn ja, was müsste getan werden?

Larissa Dimitrijevic: In der täglichen Arbeit fallen uns insbesondere Lücken im Betreuungsangebot der bereits erwähnten FASD-Erkrankungen auf. Obwohl gemäss Schätzungen die Schweiz zu den Ländern mit der höchsten Prävalenz gehört (über 1 %), gibt es, im Gegensatz etwa zu Deutschland, keine Fachstelle für fetale Alkoholspektrum-Störungen. Die Pflegeeltern sind oft sich selbst überlassen mit den Herausforderungen, welche sich in fast allen Lebensbereichen zeigen können: Lernen, Umgang mit Regeln und Abläufen, Wahrnehmung etc. Dadurch erhalten die betroffenen Kinder keine individuelle, ihren Bedürfnissen entsprechende Hilfe. Auch bezüglich präventiver Massnahmen, beispielsweise der Sensibilisierung zu Gefahren vorgeburtlichem Suchtmittelgebrauchs (Alkohol wie auch andere Substanzen) ist in unserer Gesellschaft noch viel Luft nach oben.

Besten Dank für das Gespräch.

Weiterführende Informationen und Kontakte

Verein prima-familia - Fachorganisation für Sozialpädagogik und Sozialtherapie

prima-familia ist ein Verein mit Sitz in Bern, der sich zum Ziel setzt, mit Menschen in schwierigen Lebenslagen einen Weg zu finden, diesen zusammen zu beschreiten und auf ein gelingendes Zusammenleben in ihrem Herkunftssystem und ihrem Lebenskontext hinzuarbeiten.

Kontakt: Verein prima-familia, Belpstrasse 24, 3007 Bern
Telefon: 031 381 66 63
E-Mail
www.prima-familia.ch

Schulung zum Thema Sucht und ihre Auswirkungen

Die Berner Gesundheit führt im Rahmen der nationalen Aktionswoche «Kinder von suchtkranken Eltern» eine Weiterbildung zum Thema Sucht und ihre Auswirkung auf Kinder und Jugendliche eine geschlossene Schulung für Fachpersonen und Pflegefamilien von prima-familia durch.

Haben Sie Interesse an einer massgeschneiderten Weiterbildung oder Schulung zu Themen der Gesundheitsförderung, Prävention oder Sexualpädagogik? Nehmen Sie unverbindliche mit uns Kontakt auf:
E-Mail schreiben

Beratungsstelle Familienpflege

Per 1. April baut die Berner Gesundheit im Auftrag des kantonalen Jugendamtes eine allgemeine Beratungsstelle für Familien auf in Ergänzung zu den bestehenden Angeboten in der Familienpflege. Ziel ist, dass für Pflege- und Herkunftsfamilien eine unabhängige und niederschwellige Beratungsstelle zur Verfügung steht. Bei Unsicherheiten, einem unguten Gefühl oder Fragen in Zusammenhang mit dem (Pflege-)Kind können sich Pflegeeltern und leibliche Eltern rasch und kostenlos beraten lassen. Familien, welche Interesse zur Aufnahme eines Pflegekinds haben, können sich bei der Beratungsstelle unkompliziert und unverbindlich die nötigen Informationen einholen und sollen kompetent unterstützt werden.
www.bernergesundheit.ch

Nationale Aktionswoche «Kinder von suchtkranken Eltern eine Stimme geben»

Im Rahmen einer internationalen Bewegung findet vom 21. bis 27. März 2022 in der Schweiz zum vierten Mal eine nationale Aktionswoche statt. Ziel ist es, den Kindern von suchtkranken Eltern eine Stimme zu geben und auf ihre Situation und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Die Berner Gesundheit beteiligt sich mit Partnerinnen und Partnern an den vielfältigen Aktivitäten.
Weitere Informationen und Programm unter:

www.kinder-von-suchtkranken-eltern.ch